Geschoßtests Buchhalde 1942
Autor: Rafael Rees
Veröffentlicht in: Gesammelte Aufsätze zur Fridinger Geschichte Band 1
Im letzten Sommer wanderte ich, wie so oft, von Fridingen nach Mühlheim. Unterhalb des Geistfelsens, im Gewann Birkenloch, stieß ich auf einen anderen Wanderer, der sich gerade über die mächtigen Löcher in der Felswand wunderte. Ich kam ihm da wie gerufen. Ob ich vielleicht ein Einheimischer sei, fragte er, und ob ich wüßte, wie die Löcher in den Fels kämen.
Er hatte Glück. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich schon einiges, und er schien wirklich interessiert. So erzählte ich:„Während des Zweiten Weltkrieges, im Jahre 1942, wurden hier Schießversuche durchgeführt, vermutlich um die Eindringfähigkeit der Geschosse in Bunkeranlagen festzustellen. Zu diesem Zweck wurde aus einem Eisenbahngeschütz mit Kaliber 34cm auf eine Schußentfernung von circa 500 bis 600 Metern in die Felswand gefeuert.“Woher ich das so genau wüßte, fragte mich mein Gegenüber.
„Es wurden fast vollständige Geschoßreste gefunden“, fuhr ich fort, „die darauf schließen lassen, dass das Kaliber 34 cm betrug. Diese Reste können im Heimatmuseum Fridingen besichtigt werden. Außerdem stecken weitere Geschosse, teilweise bis zu 8 Meter tief, noch im Fels. Die Schußversuche fanden damals unter strengster Geheimhaltung statt. Die Bevölkerung erfuhr nichts über diese Tests, bei jeder Beschießung war das ganze Gelände gesperrt.“
Mein Zuhörer war begeistert. Mit soviel Information hatte er nicht gerechnet. Dabei hatte ich ihm noch nicht erzählt, dass zu dieser Zeit neben der Hauptstrecke der Reichsbahn durch das Donautal ein Nebenanschluss gelegt worden war. Die Trasse dieses Geleisanschlusses ist noch heute im Gelände am Hennenbühl, gegenüber dem Geistfelsen, gut sichtbar. Ebenfalls kann man die Unterstände der ehemaligen Geschützstellung deutlich erkennen. Die Schießversuche wurden mit einem E-Geschütz (Eisenbahngeschütz) vorgenommen. Vermutlich handelte es sich um ein erbeutetes französisches Geschütz aus dem Ersten Weltkrieg.
Doch mein Zuhörer wollte nun weiter, bedankte sich bei mir herzlich und ließ mich mit der Geschichte und meinen Gedanken zurück. Ob nicht noch mehr über diese Schießversuche in Erfahrung zu bringen wäre, fragte ich mich und beschloss, nach weiteren Informationen zu suchen.
Eine mühevolle und zeitaufwendige Kleinarbeit stand bevor. Über 40 Zeitzeugen wurden befragt, Telefonate geführt und Briefe geschrieben. Schließlich konnte ich durch mündliche Überlieferung doch noch einiges in Erfahrung bringen. Bildmaterial blieb mir leider bis heute versagt, und manche Spur endete mit der Nachricht, die Kriegsteilnehmer seien verstorben. So mußte ich mich mit einer relativ geringen Auslese abfinden; allerdings wurden folgende Aussagen von verschiedenen Befragten bestätigt:Von Februar bis Mai und von August bis Anfang September 1942 waren acht Wehrmachtsangehörige, wahrscheinlich Offiziere, und vier Zivilisten aus Berlin, dem Kommando von Oberst Ludwig Ehrlich unterstellt und im Gasthaus „Sonne“ untergebracht, erzählt Frida Schreiber. Während dieser Zeit wurden Kisten mit der Aufschrift „OKW“ (Oberkommando Wehrmacht) angeliefert. Fragte man nach dem Inhalt, bekam man keine oder nur eine ausweichende Antwort.
Die Soldaten waren damals in Privatquartieren untergebracht. Die Mahlzeiten wurden hinter dem Gasthaus „Löwen“ eingenommen. Fanden Schießversuche statt, so mußte das Essen ausgefahren werden. Dafür war Moritz Heni (Bote) zuständig. Er brachte mit seinem Pferdefuhrwerk das Essen von der Feldküche (altes Backhaus) ins Birkenloch.Einer der Soldaten, die nach Fridingen abkommandiert und bei den Schießversuchen eingesetzt worden waren, Anton Linder, heiratete im November 1942 die Fridingerin Regina Feger und nahm hier seinen Wohnsitz.
Kurt Hilzinger, ein Augenzeuge, erinnerte sich, wie er als Bub auf dem Geschütz, als dieses einmal auf dem Tuttlinger Bahnhof abgestellt war, herumgeturnt sei. Er ahnte nicht, welchem Zweck dieses Kriegsmaterial diente. Andere Befragte erinnern sich, dass das Geschütz auch oft auf dem Fridinger Bahnhof gestanden sei.
Pioniere bauten einen Holzsteg über die Donau in Höhe Buchhalde. Damit wurde der Weg von der Feuerstellung zu den Einschusslöchern verkürzt, da nach jeder Beschießung die Eindringtiefe gemessen wurde.
Meinrad Steidle und Josef Eberhardt (Bahnhof-Sepp) erinnern sich an ein Bahnwärterhäuschen, den zusätzlichen Gleisanschluss und an zwei Bunker. Zudem wissen sie noch, dass es sich bei dem Geschütz um ein erbeutetes französisches Eisenbahngeschütz handelte.
Zahlreiche Bürger mutmaßten damals, dass diese Schießversuche den Zweck hatten, Munition für die Zerstörung der Bunkeranlage des Krimhafens Sewastopol zu testen. Dazu ist anzumerken, dass der Kampf um Sewastopol von November 1941 bis 2. Juli 1942 dauerte. Somit stimmt der zeitliche Ablauf mit den Versuchen im Donautal nicht genau überein. Allerdings wurde bei der Einnahme von Sewastopol mit Spezial-Röchling-Granaten geschossen. Sie explodierten nicht beim Aufschlag, sondern erst wenn sie in den Widerstand eingedrungen waren (Veröffentlichung des russischen Journalisten Wojetekow).Bei den Geschoßfunden vom Geistfelsen handelt es sich sowohl um Geschosse ohne als auch um solche mit Aufschlagzünder; diese hatten jedoch ein anderes Kaliber. Wie vom Militärarchiv in Freiburg zu erfahren war, könnte ein Bezug zu der vom Heeres-waffenamt vorgesehenen Einführung von „Röchling-Beton-Granaten“ für diese Geschütze noch im Jahre 1945 bestehen. Schießversuche dazu wurden durchgeführt. Aus den Unterlagen des Heereswaffenamtes sind allerdings die Versuchsorte nicht zu entnehmen.
Entwicklungsträger für diese Munition waren die Hessischen Industriewerke und die Firma Röchlingsche Eisen-und Stahlwerk GmbH, Völklingen. Nachforschungen bei diesen Unternehmen bzw. deren Rechtsnachfolgern blieben jedoch bisher erfolglos. Als sicher gilt, daß 1944 noch 31 französische E-Geschütze, Kaliber 34 cm, auf Eisenbahnlafetten in deutschen Batterien im Einsatz waren.
Weitere Archivalien, die in Verbindung mit den Schießversuchen andere Hypothesen um das Geschehen am Geistfelsen erlauben würden, konnten leider nicht ermittelt werden.
Aufschluß über das Ende der Versuche gibt eine Eintragung in den Akten des Pfarrarchivs Mühlheim: „Das Schießen wurde bereits am Freitag, den 4. Oktober 1942 eingestellt und das Geschütz am Samstag abmontiert.“ Trotzdem wurde die traditionelle Wallfahrtsprozession auf den Welschenberg aus Sicherheitsgründen verboten. Auch in den Verkündbüchern der katholischen Kirchengemeinde Fridingen ist vermerkt: „1942, keine Rosenkränze auf dem Welschenberg wegen militärischer Unternehmungen.“
Wurde am Geistfelsen geschossen, so klirrten in Fridingen und Mühlheim die Fensterscheiben, und die Detonationen waren bis Tuttlingen zu hören.
Falls Sie, lieber Leser, demnächst einmal den Weg von Fridingen nach Mühlheim wandern sollten, so denken Sie vielleicht an diese Geschichte und freuen sich, dass heute nicht mehr geschossen wird - wenigstens nicht im Donautal.
Quellen:
Hauptstaatsarchiv Stuttgart Bundesarchiv / Militärarchiv Freiburg, Kruppwerke Essen
Pfarrarchiv Mühlheim a.D. Pfarrarchiv Fridingen a.D.
Weiterhin danke ich für die freundliche Unterstützung:
Ludwig Henzler, Liesel Eber, Ski-Buhl, Fridel Maier, Mühlheim a.D.
Albert Locher (Eckstraße), Wolfgang Wirth, Fridingen a.D.